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Institut für Anästhesiologie (Direktor Prof. Dr. E. Kolb) und II. Medizinische Klinik (Direktor Prof. Dr. M. Classen) der Technischen Universität München, Klinikum rechts der Isar

Akutes dialysepflichtiges Nierenversagen (ANV) nach Polytrauma - Charakterisierung des Patientengutes einer Intensivstation

H. J. Schneck, B. v. Hundelshausen, G. Tempel, K. F. Kopp

Einleitung

Das akute dialysepflichtige Nierenversagen (ANV) ist mit einer Letalität von etwa 60—80% eine zu Recht gefürchtete Komplikation bei Patienten nach schwerer Mehrfachverletzung. Während des letzten Jahrzehnts konnte durch Fortschritte auf dem Gebiet der Intensivmedizin und der Dialysetechnik selbst die Überlebenschance der betroffenen Patienten schrittweise verbessert werden.

Als Hauptursachen des ANV nach Polytrauma bleiben unverändert bestehen die länger dauernde zirkulatorisch oder pulmonal bedingte Hypoxie der Niere, also die klassische "Schockniere", und das septisch-toxische ANV im Rahmen des bakteriell-bakteriotoxischen Multiorganversagens.

Die vorliegende Untersuchung soll zur Charakterisierung der Gruppe von Patienten dienen, bei denen nach schwerer Unfallverletzung ein ANV auftritt, das die Haemodialysebehandlung erforderlich macht.

Patientengut

In den Jahren 1975 bis 6/1985 wurden auf unserer Intensivstation insgesamt 1117 Patienten nach Unfallverletzungen behandelt, zum weit überwiegenden Teil nach Verkehrsunfällen. Über die Zusammensetzung dieser Patientengruppe und über wichtige Daten aus dem Behandlungsverlauf gibt Tab. 1 Aufschluß.

Tab. 1. Persönliche Daten und Behandlungsdaten der polytraumatisierten Patienten.
Polytraumatisierte Patienten n = 1.117
Alter (Jahre) 35
Geschlecht (%) 76 m, 24w
Behandlungsdauer (Tage) 17
Letalität (%) 32
Injury Severity Score 32,4
Beatmungsdauer (Tage) 7
Erstversorgungszeit (Stunden) 6
Blutkonserven bei Erstversorgung 7

Von diesen 1117 Patienten wurden 106 einer Hämodialyse unterzogen, es wurden also 9% aller Patienten dialysiert. Von diesen verstarben im Verlauf 76 (72 0/0), 30 Patienten überlebten. In Anbetracht des mit sehr schweren Mehrfachverletzungen belasteten Patientengutes erscheint uns die Frequenz von 9% hämodialysepflichtigen Patienten nicht übertrieben hoch, was wir unter anderem darauf zurückführen, daß in unserer Klinik bei Polytraumatisierten großes Augenmerk auf rascher und vollständiger Kontrolle des hämorrhagischen Schocks und auf der unbedingten Vermeidung einer azidotischen Stoffwechsellage in der posttraumatischen Phase liegt (2).

Bei im wesentlichen unveränderter Zusammensetzung des Patientengutes wurde die Indikation zur Hämodialyse in den letzten Jahren allerdings strenger gestellt (1975 bis 79: durchschnittlich 13 Patienten pro Jahr; 1980 bis 85: durchschnittlich 7 Patienten pro Jahr), was sich auch in einer Verringerung der Letalität in der Gruppe der dialysierten Patienten ausdrückt (77 gegenüber 63%).

Bei 63 der Patienten mit dialysepflichtigem Nierenversagen konnte als Ursache eindeutig ein septisch-toxisches Geschehen angenommen werden, 33 Patienten erlitten ein ANV nach protrahiertem hämorrhagischem Schock.

Ergebnisse

Vergleicht man nun die Patienten mit Dialysebehandlung mit dem gesamten Patientengut, so werden einige Besonderheiten deutlich, die in den folgenden Abbildungen dargestellt sind.

Es ist offensichtlich, daß die dialysierten Patienten im Durchschnitt um einige Jahre älter sind. Ebenso eindeutig liegt der Injury Severity Score als Maß für die Schwere der Gesamtverletzung (1) signifikant höher, wenn auch nur um 3,9 Punkte. Die Erstversorgungsdauer, also die Zeit zwischen Klinikaufnahrne und Aufnahme auf die Intensivstation, ist bei den später dialysepflichtigen Patienten ebenfalls im Durchschnitt um etwa 1 Stunde länger, wiederum statistisch signifikant. Alle weiteren hier dargestellten Parameter sind eher als Folgen denn als Ursachen des ANV anzusehen; die längere Behandlungs- und Beatmungsdauer im Gesamtdurchschnitt rührt natürlich von der sehr langen Behandlungszeit der überlebenden Dialysepatienten her, die ins unserem Kollektiv  bis zu 151 Tage reicht. Auffälligster Unterschied zwischen den Gruppen dialysierter und nicht dialysierter Patienten ist die Letalität, die 27 bzw. 72% beträgt. (Abb. 1).

Bei Beurteilung der Verletungsschwere nach den Kriterien des Injury Severity Score (ISS) zeigt sich (Abb. 2), daß die dialysepflichtigen Patienten im Durchschnitt schwerere Verletzungen an den Thorax- und Bauchorganen aufweisen, was auch den - ebenfalls signifikanten - Unterschied in der Anzahl der zur Erstversorgung erforderlichen Blutkonserven erklärt. Daß der aus der Schwere der Gesamtverletzungen resultierende Injury Severity Score in der Gruppe der hämodialysierten Patienten nur geringfügig über dem aller Patienten liegt, ist eine Folge des Befundes, daß in der Dialysegruppe im Durchschnitt weniger schwere Schädel-Hirn-Verletzungen zu beobachten waren.

Der auch statistisch eindeutige Hinweis, daß später dialysepflichtige Patienten bereits zu Beginn der Behandlung in einem sehr hohen Prozentsatz mit einem inspiratorischen Sauerstoffanteil von 60% oder mehr beatmet werden müssen, mag zum Teil aus der Häufung der schweren Thoraxtraumen in dieser Gruppe zu verstehen sein; eine in diesem Zusammenhang zu diskutierende Ursache ist aber sicher auch der hohe Bedarf an Blutkonserven als Ausdruck der Schwere des hämorrhagischen Schocks, wobei umgekehrt auch die Organhypoxie im Zuge von Kreislaufschock und Lungenversagen ihren Teil zum Entstehen des ANV beitragen dürfte.

Der Vergleich zwischen dialysierten und nicht dialysierten Patienten zeigt also zunächst, daß dialysepflichtige Patienten signifikant älter sind als Patienten ohne Dialyse; zweitens finden sich bei Patienten mit ANV signifikant gehäuft schwere Thorax- und Abdominalverletzungen, Patienten mit schwerem SHT überwiegen hingegen signifikant in der Patientengruppe ohne Dialyse.

Die ebenfalls eindeutigen Unterschiede in Erstversorgungsdauer, Konservenbedarf bei Erstversorgung, Behandlungsdauer und Beatmungsdauer können wohl mit Recht als Folgebefunde dieser unterschiedlichen Ausgangssituation gewertet werden. Die Unterschiede in der Qualität der Beatmung sind nur zum Teil durch das Verletzungsmuster bedingt; zum Teil sind sie sicher auch schockbedingt und besitzen damit einen gemeinsamen pathogenetischen Ausgangspunkt wie das später sich entwickelnde Nierenversagen.

Die Letalität liegt in unserem Patientengut bei 72% für die dialysierten, bei 27 % für die nicht dialysierten Patienten. Die Letalität in der Dialyse-Gruppe liegt mit 72 % weit über der Letalität, die bei einer durchschnittlichen Verletzungsschwere von 35,9 Punkten gemäß Injury Severity Score zu erwarten wäre; diese läge im eigenen Patientengut zwischen 35 und 40% (3).

Das ANV stellt also eine Komplikation dar, die die Prognose erheblich beeinträchtigt.

Vergleicht man nun innerhalb der Gruppe dialysierter Patienten zwischen den 30 Überlebenden und den 76 Verstorbenen, so findet sich folgende Situation (Abb. 3):

Ein Altersunterschied zwischen verstorbenen und überlebenden Patienten mit ANV besteht praktisch nicht, deutlich, aber nicht signifikant differiert der ISS als Ausdruck der gesamten Verletzungsschwere. Hierzu passend liegt die durchschnittliche Erstversorgungsdauer mit 7 Stunden höher bei den verstorbenen Patienten mit ANV. Daß die Behandlungsdauer bei den Verstorbenen und damit auch die durchschnittliche Beatmungsdauer signifikant kürzer sind, bedarf keiner Erklärung.

Beim Vergleich der Verletzungsmuster (Abb. 4) zeigt sich hier, daß die später verstorbenen Dialysepatienten im Durchschnitt schwerere Verletzungen an Schädel, Abdomen und Extremitäten aufweisen. Hervorzuheben scheint uns jedoch, daß die Thoraxverletzungen in der Gruppe der Überlebenden schwerer ausgeprägt sind. Da der anfangs zur suffizienten Oxygenierung erforderliche inspiratorische Sauerstoffanteil bei den verstorbenen Patienten mit ANV dennoch wesentlich höher liegt, kann geschlossen werden, daß der durch die anfänglich bestehende Kreislaufinsuffizienz hervorgerufenen Gewebshypoxie die wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Organinsuffizienz zugesprochen werden muß, an der Niere ebenso wie an der Lunge im Sinne des ARDS wie an anderen Organen und Organsystemen, daß also die primäre, schockbedingte Organhypoxie letztlich den wichtigsten Faktor in der Kausalkette zwischen Verletzung, Organversagen und letalem Ausgang darstellt. Diese anfängliche Kreislaufinsuffizienz drückt sich auch in der mit 14 gegenüber 8 deutlich erhöhten Zahl der bei Erstversorgung verabreichten Blutkonserven bei den verstorbenen Patienten mit ANV aus.

Schließlich zeigt der Vergleich zwischen den Patienten mit schock- bzw. sepsisbedingtem Nierenversagen, daß bei identischer Letalität von 70 resp. 71% die Gruppe mit protrahiertem hämorrhagischem Schock vorwiegend in der Abdominalregion wesentlich schwerere Verletzungen aufweist; als Folge hiervon sind bei diesen Patienten durchschnittlich 21 Blutkonserven bei der Erstversorgung erforderlich. Das Nierenversagen tritt dementsprechend früh auf, der Beginn der Hämodialyse liegt im Durchschnitt bereits am 3. Behandlungstag, während die Gruppe der Patienten mit septisch-toxisch bedingtem ANV regelmäßig erst Ende der zweiten Woche dialysepflichtig wird. 60 % der schwer schockierten Patienten in dieser Gruppe entwickeln gleichzeitig auch ein akutes Lungenversagen, wobei sich wiederum Hypoxie und Regulationsstörung des Wasserhaushaltes gegenseitig verstärken.

Diskussion

Für die Ausbildung eines akuten Nierenversagens nach Polytrauma müssen unseren Ergebnissen zufolge als disponierend angesehen werden: schwere Verletzungen des Bauchraums mit schwerem hämorrhagischern Schock und große Mengen an Transfusionen Während der Erstversorgung.

Die Kombination mit schweren Verletzungen anderer Körperregionen erhöht das Risiko der Ausbildung eines ANV, jedoch dürfte die Beeinträchtigung der respiratorischen Leistungsfähigkeit durch Thoraxtraumen gegenüber der Verschlechterung der Oxygenierung durch die Manifestationen des hämorrhagischen Schocks an der Lunge selbst in den Hintergrund treten.

Jüngere Patienten scheinen hinsichtlich der Ausbildung des ANV und hinsichtlich des Ausgangs geringfügig begünstigt zu sein. Das zu einem späteren Zeitpunkt infolge bakteriell bedingter Komplikationen auftretende septisch-toxische Nierenversagen unterscheidet sich hinsichtlich der Prognose nicht vom Verlauf bei primärer Schockniere: Mit einer Letalität von etwa 70 % im eigenen Patientengut stellt das ANV eine nach wie vor äußerst bedrohliche Komplikation nach Mehrfachverletzung dar.

Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß sich die letztlich in Anspruch nehmende Todesursache in den beiden Patientengruppen in der Regel nicht unterscheidet: Auch der Patient mit früh auftretendem Nierenversagen nach Schock stirbt schließlich an bakteriell bedingten Komplikationen.

Die Niere als geläufiges Schockorgan mit ihrer augenfälligen Funktionseinbuße stellt nur eines von zahlreichen, womöglich allen Organen und Organsysternen dar, deren Tätigkeit im Rahmen eines Schockgeschehens nachhaltig beeinträchtigt wird.

Neben Schocklunge, Schockleber und Schockpankreas läßt sich, wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, gleichberechtigt auch von Schockgerinnung oder Schockendokrinium sprechen. Vieles weist darauf hin, daß auch die Annahme eines “Schock-Immunsystems” nicht abwegig sein dürfte.

Zum Schluß sei noch festgehalten, daß diejenigen Patienten, die ein akutes Nierenversagen nach Polytrauma mit Hämodialysebehandlung von bis zu 42 Einzelsitzungen überlebten, hinsichtlich ihrer Nierenfunktion eine völlige Wiederherstellung erfahren haben; dies gilt glücklicherweise nicht nur die renale, sondern in ganz analoger Weise auch die pulmonale Funktion nach schwerer Schocklunge mit langfristiger Beatmung unter hoher inspiratorischer Sauerstoffzufuhr und, soweit bisher untersucht, auch im Rahmen des Schockgeschehens aufgetretene funktionelle Störungen weiterer Organsysteme.

Literatur

  1. Baker SP, O’Neill B. The injury severity score: An update. J Trauma 1976; 16: 882—5.
  2. Kopp KF. Prophylaxe des Akuten Nierenversagens (ANV) mit Hilfe der Bikarbonat-Diurese (BD). Intensivmed 1981; 18: 254—60.
  3. Schneck HJ, v. Hundelshausen B, Tempel G, Brosch R. Zur Aussagekraft des Injury Severity Score (155). Akt Traumatol 1985; 15: 249—53.